Rainer Ganahl
Ganahl-Dütsch, odr?
I.
Kreditkartenfirmen können zurecht in ihren Werbeclips mit der Tatsache spielen, daß ihre Karten alle Sprachen verstehen: “It’s Fluent in Every Language” (Visa); “Any time, Anywhere, Any Language” (MasterCard). Hinzugefügt werden kann, daß auch das, was die Karten gegen eine Unterschrift eintauschen, selbst wenn die Schrift unleserlich bleibt, in den meisten Fällen ebenso eine international verständliche Sprache spricht. Waren und Serviceleistungen, Verkehrs- und Kommunikationsmittel, sowie deren Werbe- und Verkaufsflächen “sprechen dieselbe Sprache”, d.h. gleichen sich weltweit immer mehr aneinander an. Je nach Branche werden Produkte und Service von nur wenigen multinationalen Herstellungsgruppen erzeugt und angeboten. Dort wo Unterschiede noch erkennbar sind, werden diese oft als Tourismuskitsch verkauft oder in ökonomisch soziale, rassistisch religiöse Vorurteile übersetzt. Obwohl also die Menschen der “ernährten” Welt anfangen, dasselbe zu essen, in denselben Kleidern zu gehen, dieselben Autos zu fahren,
Sprachen lassen sich nicht wie Waren oder Serviceleistungen kaufen. Sogenannte Fremdsprachen verlangen bis zur Beherrschung jahrelanges Lernen, von Kindern genauso wie von Erwachsenen. Die Zeit des Spracherwerbs ist nicht die Zeit von Kreditkarten, Flugtickets, TV-Programmen oder Einkaufszentren. Sprachzeit ist Lebenszeit. Sprachveränderungen bringen Lebensveränderungen mit sich, wie umgekehrt einschneidende Lebensveränderungen zumeist Sprachveränderungen bewirken. Jeder wächst zumindest mit einer Sprache auf, die er je nach Erfahrung und Umwelt erlernt und anwendet. Sprachen werden im Erziehungsalter meistens in Schulen gelernt. Dort zählen das eloquente Sprechen der Landessprache und das Erlernen von Fremdsprachen zu den wesentlichen Auswahlskriterien für die Berufs- und Studiumswahl.
Sprachkompetenz entscheidet so über Sozial- und Lebenschancen und situiert nicht nur junge Leute. Während des sehr schwierigen Übergangs von der sowjetischen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Rußland, konnte ich selbst 1991 und 1992 beobachten, wie an der Sprachgrenze die Hungergrenze verlief. Diejenigen, die eine Fremdsprache beherrschten, hatten Kontakte zu Ausländern, deren harte Währung mehr als nur hartes Brot bescherte. In den New Yorker sweat shops, wo billige Arbeiterinnen aus Südostasien oder Zentralamerika die Arbeits- und Gesundheitsgesetze verletzen müssen, wird Englisch oft nicht verstanden. Millionen nach Arbeit und gewaltfreien Lebensverhältnisse suchende Menschen, die ständig in der Welt umhergestoßen werden, sprechen meistens die Landessprache nicht oder nur unzureichend und erleiden deshalb zusätzliche Not. Das Nichtbeherrschen der Landessprache rechtfertigt oft ungerechte Arbeits- und Lebensbedingungen. Auch in Vorarlberg finden sich am unteren Ende des Sozial- und Arbeitsspektrums vorwiegend Leute, die kein oder nur ungenügend Deutsch sprechen können. Der Weg von “Du arbeiten jetzt” zur sprachlichen und sozialen Integration ist lang und bedarf mitunter Generationen. Aber auch bei völliger sprachlicher Integration in den dorfeigenen Dialekt bleiben oft Vorbehalte bestehen.
Sprachen haben neben der sozialen auch eine nationale Bedeutung. Sie schaffen Identität. Die politisch verwürfelten deutschsprachigen Länder des 19. Jahrhunderts konnten - mit Ausnahme der Schweiz und Österreich - durch die Gemeinsamkeit der deutschen Sprache und durch der Schaffung einer Deutschen Literatur, einer Deutschen Kunst und einer Deutschen Geschichte die politische Vereinigung antizipieren und schließlich auch vor ungefähr 120 Jahren erzwingen. Damals vereinigte sich auch Italien, dessen Mehrzahl der neuen Staatsbürger kaum Italienisch sprachen. Die Französische Revolution brachte den Franzosen eine politisch vereinte Nation und die Auflage, der zufolge auch die restlichen 67 % des Landes ausschließlich Französisch zu lernen und zu sprechen hätten.
Der Grund, wieso Sprachen nicht ohne Gewalt und Zwang - und sei es nur ökonomischer und sozialer Zwang - aufgegeben werden können, hängt damit zusammen, daß Sprachen das gesamte individuelle und kollektive Gedächtnis der Menschen verwahren. Leben und Sinn vermitteln sich wesentlich sprachlich. Geschichten und Geschichte werden erlebt, erzählt, geschrieben und sprachlich übertragen. Es liegt deshalb immer im Interesse der politisch Dominierenden, deren Sprache und Schrift dem Volk aus Gründen der Regierbarkeit vorzuschreiben, eine Vorschrift, die sehr bald von einem Teil der neu Regierten als vorteilhaft empfunden wird. Die Kolonialgeschichte ist so wesentlich auch eine Sprachgeschichte. Spanisch und Portugiesisch werden in Südamerika gesprochen; Englisch in Indien, Pakistan, Südostasien, Afrika, Nordamerika, und Neuseeland; Französisch in Afrika, Nordamerika, und etlichen Karibischen Inseln, um hier nur mit dem Daumen sehr ungenau auf einige dominante eurozentristische Kolonisationsspuren zu verweisen. Vergessen sollte auch nicht die Russifizierung der halben Welt unter ex-sowjetischem Einfluß werden, wo heute zum Teil erst mit Mühe lokale Sprachen wiedererlernt werden müssen. Die Russifizierung stoppte nicht einmal vor Familien- und Eigennamen.
Die Befreiungsmächte des II. Weltkriegs brachten im westlichen Teil Europas Englisch als Unterrichtsgegenstand in die Schulen und in der Ostzone Russisch. Französisch blieb durch die politische, militärische und ökonomische Schrumpfung Frankreichs als Diplomatie- und Weltsprache auf der Strecke. Wenn auf einer internationalen Konferenz in Tokyo oder Seoul eine französische Teilnehmerin, die sehr wohl fließend Englisch sprechen kann, darauf besteht, daß sie ihren Vortrag auf Französisch halten darf und man noch ein zusätzliches Übersetzerteam bereitstellen muß, da bis auf 3 Personen im Saal niemand französisch versteht, so ist das eine nostalgisch-post-imperialistische Geste, die sprachlicher Vormachtstellung und Arroganz nachtrauert. Englisch ist durch die historische Dominanz des kolonialistischen Englands und die heutige ökonomische, militärische, technologische und politische Vormachtstellung der USA zur dominierenden Verkehrssprache des Großteils der Welt geworden. Man darf jedoch nicht vergessen, daß sowohl die USA als auch England beachtliche Geldsummen weltweit für Englischunterricht investieren. Ein geheimes Ziel dieser Sprachpolitik liegt darin, Englisch als Lingua Franca auch im vielsprachigen China und im vielsprachigen Rußland durchzusetzen. Das chinesische Fernsehen bietet permanent Englischunterricht an. Auch in der viersprachigen Schweiz avanciert Englisch zur Verkehrssprache, was durch eine erst neulich adoptierte veränderte Sprachpolitk in der Ostschweiz forciert wird. In den deutschsprachigen schweizer Schulen ist nun nicht mehr Französisch die erste Pflichtfremdsprache, sondern Englisch.
An der Sprache hängen Ökonomie, Technologie, Information, Kultur und Unterhaltung gleichzeitig. Englisch ist das Schwarze Gold, das den Dollar nicht nur vom show business Hollywoods zur Wallstreet und der Londoner Börse zum singen bringt, sondern weltweit an allen Treffpunkten und Tauschplätzen schwingen läßt. Es ist nicht wirtschaftlich bedeutungslos, daß seit langer Zeit die französischen Chansons als internationales Exportgut ausbleiben, jedoch bald jedes vorarlberger und vietnamesische Kind amerikanische Songs imitieren kann, um erst gar nicht von der Vorherrschaft multimedialer Exportprodukte zu sprechen. Mit der steigenden Dominanz des Internets und des digitalen Welthandels von Information, Waren, Finanz- und Serviceleistungen, vervielfacht sich noch die Vorherrschaft der Englischen Sprache als oft fehlerhaft benutztes, vereinfachtes nationsloses Esperanto. Der sprachlich hybride Umschlag dieser Publikation spielt mit diesem Faktum. Englische Ausdrücke dringen als Fremdwörter in nahezu alle Sprachen ein, so daß sich die Frage aufdrängt, ob es nicht auch zu einem “sprachlichen Zusammenschluß” (linguistic merger) kommen kann, was den wirtschaftlichen Fusionen von Daimler Benz mit Chrysler und der Frankfurter Börse mit der Londoner gelegen käme. Nicht zuletzt läßt sich die Tendenz erkennen, daß Englisch zur Wissenschafts- und Kommunikationssprache weltweit avanciert, wie das in vielen Ländern ansatzweise schon der Fall ist und in diversen Disziplinen schon überall praktiziert wird.
II.
Innerhalb der Geographie einer Standardsprache existieren oft Dialekte und phonetische Abweichungen, die Zeuge von unterschiedlichen historischen und sozialen Entwicklung ablegen. Dialekte und Idiome sind lokale sprachliche Eigenwege, die oft nicht in ihrer Eigenständigkeit, sondern negativ in ihrer Abweichung von der Norm begriffen werden. Dialekte werden in den meisten Fällen bleiben ohne schriftlich festgesetzte Normierung. Sie sind abhängig von der Masse ihrer Sprecher, deren sprachliche Identität vorerst an eine regional begrenzte Mundart gebunden ist. Dialektsprecher sind heute meistens mehrsprachig. Sie beherrschen neben ihrem örtlichen, familiären Dialekt zumeist auch noch eine überregionale Umgangssprache und eine standardisierte Schriftsprache. Die diversen Sprachebenen bleiben voneinander wesentlich getrennt. Häusliches und örtliches Sprechen unterscheidet sich vom verbalen Austausch, den man in der Stadt, in anderen Regionen oder mit Vertretern von überregionalen Institutionen - Schule, Polizei usw. - unterhält. Das Wechseln der Sprachregister ergibt sich aus Gründen der Verständlichkeit. De facto aber herrschen überall auch sprachliche Zwänge vor, die Anpassung und Codebeherrschung den Sprechern abverlangen. Sprachvielfalt und Sprachwechsel haben was befreiendes und bereicherndes, wenn die diversen Sprachebenen wohl beherrscht werden. Allerdings läßt sich überall die Tendenz beobachten, daß lokale Sprechweisen und Mundarten von den jeweiligen Sprechern durch den Druck einer standardisierten sprachlichen Mehrheit mitunter als stigmatisierend erlebt werden, was erklärt, wieso Dialekte verloren gehen. Es haftet ihnen etwas begrenztes an, weil der Dialekt nicht mit sozialer und erzieherischer Aufwärtsmobilität assoziiert wird. Berufsgruppen mit nur örtlichen Bezugsrahmen sprechen in der Regel den Ortsdialekt mit größerer Selbstverständlichkeit als Leute, deren Interessens- und Kontaktradius überregional ausgerichtet ist. In Ballungszentren mit intensivem überregionalem Austausch und Verkehr im Verbund mit Informationsvorteilen läßt sich ein nivellierender Sprachwandel eher feststellen als in Gegenden, wo die soziale und demographische Situation stabil ist und Kommunikation nicht durch das ständige Auftreten von als privilegiert empfundenen Anderssprechern verunsichert wird.
Dialekte charakterisieren sich nicht nur politisch-geographisch als “Regiolekte”. Sie sind oft auch sozial bestimmt als “Soziolekte”. In den meisten Fällen entwickeln sich daraus überregionale Umgangssprachen, deren Sprecher sich mit einer bestimmten sozialen Position identifizieren. In Vorarlberg, das westlichste, kleinste und mit Bergen beglückte Bundesland Österreichs stoßen diverse lokale Mundarten mit einem Soziolekt aufeinander. Bevor das Land erst relativ spät als einheitliches Gebiet zu Österreich kam, war es politisch unterschiedlich organisiert, was ihm eine Dialektvielfalt bescherte. Mit der frühen und relativ intensiven Industrialisierung des “Ländle”, was u. a. auch der Abwesenheit von starken Zunftordnungen und der Anwesenheit einer armen, tüchtigen Berg- und Talbevölkerung zu verdanken war, die bis in das 20. Jahrhundert Kinderarbeit leisten mußte, entstand eine kleine Fabrikantenklasse, die ihren eigenen Soziolekt entwickelte. Diese vom Ortsdialekt abweichende Redearte wurde je nach Ortschaft entweder nach Industriellenfamilien - etwa Ganahl-Dütsch
In den Gesprächen, die ich für die Arbeit Reda - Zur Vorarlberger Mundart aufgezeichnet habe, kommen dieses Bödele- und Ganahl-Dütsch
In den aufgezeichneten und phonetisch transkribierten vierzig Gesprächen quer durch das ganze soziale und geographische Spektrum Vorarlbergs, Reda - Zur Vorarlberger Mundart, finden sich leider auch bezeichnende Beispiele von sozialer und geographischer Arroganz und Verachtung gegenüber den diversen Anderssprechenden in Vorarlberg, deren Unterschiede zum Sprecher für Außenstehende kaum vernehmbar sind. Bestimmte Talschaften und die große Ortschaft Lustenau - kaum 20 km entfernt von der Landeshauptstadt Bregenz - werden immer wieder explizit verspottet, ohne erst von der abwertenden Einschätzung der angrenzenden Schweizern zu sprechen, die innerhalb desselben Dialektkontinuums liegen. Viele der Teilnehmer verweisen direkt und indirekt auch auf die Schwierigkeiten und Bemühungen, Standarddeutsch zu sprechen. Überraschend in diesen formlosen Gesprächen sind auch die sprachlichen Selbsteinschätzungen, die Nicht-Vorarlbergern wahrscheinlich oft unverständlich sind, da die charakteristische Aussprache, Intonation und Satzstellung der Vorarlberger sich nicht so einfach nur durch minimale lexikale Vertauschungen oder Ergänzungen korrigieren lassen. Sprachlicher Zwang, sprachliche Arroganz und das Defizitempfinden sprachlicher Beschränktheit sind oft sehr versteckt und unbewußt, durchziehen aber fast alle Gespräche. Interessant dabei ist, daß der Druck nicht von Nicht-Vorarlbergern auf die Vorarlberger ausgeübt wird, sondern daß es die Vorarlberger selbst sind, die sich in klassischer Über-Ich-Manier das Sprechen selbst gegenseitig schwer machen. Das Mundartsprechen wie auch das Unvermögen, die örtliche Mundart sprechen zu können, schaffen je nach Situation Ausschluß, Demütigung und (Selbst)Respektlosigkeit.
Mein Interesse an den verschiedenen lokalen Sprechformen in Vorarlberg ist nicht motiviert von einem Korrekturbedürfnis, sondern wesentlich von einem Reflektieren der sprachlich-sozialen Situation selbst, um Toleranz und Verständnis für sprachliche Eigenheiten und Unterschiede zu fördern. Respekt und Verständnis für die eigene Sprechweise als auch für die Redeart anderer ist in einer Zeit des gegenseitigen Verkehrs unabdinglich. Es geht in Reda - Zur Vorarlberger Mundart also nicht um die sprachpolizeiliche Unterscheidung von “richtigem Dialekt” versus “verfälschtem” Dialekt, obwohl mich z. B. “I war ... gsi” verwundert. Auch möchte ich mich hier eindeutig gegenüber jedem bodenständigen Mundartpflegebewußtsein abgrenzen, das Mundart für reaktionäre Ausgrenzungen instrumentalisiert
Die soziale und regionale Dialekt- oder Akzentproblematik ist überall in der Welt anzutreffen. Das Einschätzen einer Sprache, eines Dialektes, eines Akzentes oder eines Idioms als “hochwertig” - z. B. Hochdeutsch versus Plattdeutsch oder Schweizerdeutsch - ist nicht sprachlich bedingt, sondern ideologisch, politisch, sozial und sprach-ethnozentrisch. Zuerst muß festgehalten werden, daß alle Sprachen Produkte verschiedener sprachlicher Quellen und somit hybrid sind. Es gibt keine “reine Sprache”. Eine “reine Sprache” ist eine Fiktion, die mit chauvinistischen, rassistischen und diskriminatorischen Weltanschauungsweisen mehr gemeinsam hat als mit sprachlicher Realität. Selbst die in deutschen und österreichischen Universitäten institutionalisierte Sprachforschung muß eine Geschichte der nationalen Ideologie- und Mythenbildung eingestehen. Es liegt in der Natur einer Sprache, sich permanent zu verändern, sich der technologischen, sozialen, ökonomischen, demographischen, sprachlichen und ideologischen Umwelt anzupassen. Interessanterweise gibt es nur im deutsch- und französischsprachigen Raum immer wieder sprachpolizeiliche Bemühungen, die Sprache zu “reinigen”. Sprachregelungen jedoch zeitigen kaum Resultate, sind sinnlos und werden selten befolgt, wenn nicht eine ökonomisch-technologische oder sozial-ideologische Realität dies unterstützt.
Die Betonung und Aussprache dessen, was als “vornehm” und was als “gemein” oder gar “vulgär” empfunden wird, ist keinem linguistischen Essentialismus zu verdanken, also der Annahme, daß es ein für alle Zeiten und Völker verbindliches ästhetisches Kriterium der Sprachempfindung gäbe, sondern ein sozialer Effekt. Der Linguist Peter Trudgill führt eine Reihe von bezeichnenden Beispielen an, die zeigen, wie identische Sprechweisen von denselben englischen Wörtern zwischen den diversen Städten komplett widersprechende Wertschätzungen erfahren können. Auch die norwegische Sprachsituation ist voll von Streitigkeiten mit staatlichen Eingriffen, weil dort vor kurzer Zeit aus der Vielzahl von gesprochenen Dialekten eine Nationalsprache (zwei Nationalsprachen) erzeugt wurde(n), deren Kompromißlösungen auch Sprachformen der ländlichen und sozialen Unterschicht zur Standardsprache (“Hochsprache”) avancierte und umgekehrt Teile des (deutsch-dänischgefärbten) Sprachhabitus der städtischen besitzenden Oberschicht disprivilegierte. Die norwegischen Beispiele “Stein” und “Ste”, “Ko” und “Kua” sind reminiszent für die Diphtong- und Monophtongunterschiede, weil sie auch die Vorarlberger Dialekte vom Standarddeutsch unterscheiden
Wie schon an anderer Stelle erwähnt, sind Nationalsprachen ein Produkt politischer Konstellationen, die Veränderungen und Streitbarkeiten unterworfen sind. So gibt es heute z. B. keine serbokroatische Sprache mehr, sondern nur noch eine serbische und eine kroatische Sprache. Der Übergang von Dialekten zu Sprachen und Nationalsprachen und umgekehrt ist immer wieder beobachtbar und ist rein politischer Natur. Das sogenannte Schweizerdeutsch ist eine Art inoffizielle Standardsprache, die sich im Jahrhundert der Nationalstaatengründung aus den diversen lokalen Dialekten herausgebildet hat, um den Unterschied zu den konfliktreichen, immer wieder kriegsführenden deutschsprachigen Ländern um sich herum klar zu unterstreichen.
Der Grund, wieso Mundarten nicht einfach in eine Standardsprache aufgehen, hängt mit dem Phänomen der sozialen Vielsprachigkeit zusammen. Die einzelnen Sprecher lernen von Kindheit an, zwischen den diversen Sprachebenen - zumindest zwischen zwei - mehr oder weniger problemlos zu wechseln. Arno Ruoff
Abschließend möchte ich noch hinweisen, daß fast alle mit mir gesprochenen vorarlberger Schriftsteller ihre Protagonisten in mehr oder weniger unbekannten, abstrakten, geographisch und/oder historisch entfernten Schauplätzen auftreten lassen, was das Problem der lokalen Sprachregister symptomatisch umgeht.
III.
Was meine eigene Sprachgeschichte betrifft, so habe ich es vorgezogen, nicht etwa einen Romanhelden zur “sprachlichen Krautschneider”
Erst die Eurozentrismuskritik Edward Saids
Etwas später folgten 3 Months, 3 Days A Week, 3 Hours A Day - Basic Modern Greek, begleitet von einem weiteren massiven Lernschub Neugriechisch für Ausstellungs- und Theoriezwecke. Griechenland mit seinen Sprachen war das “Imaginäre Andere”, der “Imaginäre Osten” vor allem der Deutschen, die sich im Lernen und Aneignen eifrig hervortaten. Wenn Napoleon auf seinem Ägyptenfeldzug sagen konnte, “C’est nous, les vrais muselmans” (Wir sind die richtigen Muselmänner)
Es versteht sich von selbst, daß meine mobile Einmann-Universität - ich abstrahiere hier von meinen Lehrern, denen ich Dank aussprechen möchte - beschränkt und dilettantisch bleibt. In keiner Weise wird hier sprachliche Exzellenz angestrebt oder erworben. Dennoch aber versuche ich, über mehrere Jahre hinweg an den jeweiligen Sprachen regelmäßig zu arbeiten, damit ich eine brauchbare Konversations- und Lesekenntnis erreiche. Die eher erlernten Sprachen wurden und werden nun ebenfalls in den Kunstzusammenhang eingebracht und weitergelernt (z. B. Basic Russian, Basic Italian usw.). Meine sprachlichen Bemühungen eröffnen mir auch interessante soziale Beziehungen und beschäftigen mich unabhängig von jeder Ausstellungslogik konstant über Jahre. “Interessenfreies” (Kant), “zweckloses” Lernen außerhalb von Schule und Beruf und ohne offensichtliche Notwendigkeit verändern den Blick auf die Welt, sind aber gesellschaftlich legitimationsbedürftig. Im Zusammenhang mit Kunst läßt sich diese Legitimationsfrage neu und komplexer reformulieren, da die Kunst eine der letzten kritischen Institutionen ist, die mit symbolischen, gewaltlosen, nicht-kriminellen Mitteln die gesellschaftliche Ordnung zu hinterfragen versucht. Sprachenlernen als Kunstpraxis ist ein minimales, symbolisches Intervenieren in einem sozio-kulturellen Feld, das sowohl von ökonomisch-sozialen wie von politisch-ideologisch/weltanschaulichen Problemen bedrängt ist. Vergleichbar der exemplarischen Beziehung, die eine psychoanalytische Konstellation zur Beobachtung und zum Durchsprechen schafft, reagiere ich mit diesem realen Kampf gegen das Vergessen und gegen die individuelle Trägheit als symbolisches Versuchsobjekt, das die unendliche Bandbreite der kulturellen Vorurteile und deren Effekte an sich selbst studieren und erleben kann. Keep moving away from your mother tongue
Die das Lernen aufzeichnenden Türme von Videokassetten, - z. B. 450 Stunden Basic Korean - lassen sich im traditionell-untraditionellen Sinn einer Skulptur verstehen und dienen gleichzeitig der Disziplin des Studierens selbst, indem die Kamera eine Motivations- und Überwachungsfunktion übernimmt und die Arbeit quantifizierbar wird. Ironischerweise vergesse nicht nur ich die erlernten Sprachen wieder, sondern auch die Videokassetten, da sie sich über Jahrzehnte hinweg entmagnetisieren. Dieser “Informationsverlust” ist im Einglang mit meiner Vorstellung von Repräsentationsverweigerung. Ich versuche, vorwiegend dem unmöglichen und absurden Visualisieren des unendlich langen Lernprozesses selbst meine dokumentarische und visuelle Aufmerksamkeit zu schenken, um Abbildungsverhältnisse zu vermeiden, die in die Tradition der aneignenden, an Exotik orientierten Reise- und Kolonialbilder fallen. Für den Reflexionskontext bin ich am Umstand des Lernens selbst mehr interessiert als an den Möglichkeiten, die sich durch die Sprachbeherrschung im allgemeinen Lebenszusammenhang eröffnen.
Die in der KUB-Ausstellung gezeigten Basic Korean Fotografien sind deshalb nicht so sehr als von mir festgehaltene Koreabilder zu sehen, sondern wesentlich als eine Anspielung auf das visuelle Begleitmaterial, wie es sich in “Korea für Anfänger” (Basic Korean) Lernbüchern finden lassen, also einem Genre von pädagogischer Fotografie, die oft einen Hang zu patriotischen Überzeichnung kennzeichnet. Die diese Fotos überlagerten sprachlichen Elemente sind meinen Lehrbüchern entnommen und versuchen durch neue Bild-Wort-Verbindungen heterogene, unerwartete Sinnzusammenhänge zu erschließen. Dieser Logik folgend habe ich bis dato schon eine Reihe von solchen “pädagogischen Sprachfotos” gemacht. Da ich keine verbindlichen Vorarlbergisch-Lehrbücher auffinden konnte, mußte ich für Basic Vorarlbergian auf Sätze der Erinnerung ausweichen: “An huora Siech”, “körige Lüt”
Die Basic Japanese-Vitrine enthält Basic Japanese, 50 Videokassetten, 100 Stunden Lernen; Basic Japanese, Arbeiten auf Papier, Schreibblätter; Basic Japanese
IV.
Schnittstellen oder Interfaces sind Oberflächen, die Kommunikation mit und zwischen informationsfähigen Maschinen erlauben. Die Art wie z. B. Computer und deren Programme Wissen und Information verarbeiten, ist entscheidend für die Entstehung, den Zugang und die Verteilung von Wissen und Information. Bekannt sind die revolutionären Auswirkungen der Erfindung des Buchdrucks auf die Produktion, den Umgang und die Autorität von Wissen. Die Einführung und das Popularisieren von Computern ist sicherlich kein geringerer Paradigmenwechsel. Computerfenster - windows - bieten heute den angemessensten und effektivsten Blick auf die Welt und ihre Verwaltung. Um ein weltweites Imperium von sogenanntem Freihandel und militärischer Vormachtstellung zu bewältigen, bedarf es einer mächtigen Kommunikationsstruktur, die schneller und billiger ist als die Luftpost und Kurzwellensender, die staatlich kontrollierten und strategisch genutzen Kommunikationsmedien der Zeit vor dem Durchbruch der digitalen Kommunikation.Das Internet ist ein internationales Netz von miteinander permanent verbundener Computernetzwerke, das seine Benutzer mit der gesamten vernetzten Welt - und nur dieser - kommunizieren läßt. Dieses dezentralisierte Netzwerk hat wie die meisten Erfindungen seinen Ursprung in der Militäranwendung, von wo aus es sich über die Universitäten hin zur allgemeinen Konsumtion von Waren-, Informations- und Serviceleistungen weitermutiert hat.
Das Internet ist heute ein Ort, der die konsumierbare und intelligible in elektronische Daten übersetzbare Welt verdoppelt. Das Zusammentreffen aller elektronischer Medien - Fernsehen, Telephon, Fax, Radio, Teleshopping, sowie jede Datenbank und jedes Informationsservice - im Internet schafft so eine neue Öffentlichkeit, die ich Doppelöffentlichkeit nennen möchte, was nicht zu verwechseln ist mit Gegenöffentlichkeit. Eine demokratische Gegenöffentlichkeit ist ein Korrektiv, das von der dominierenden Öffentlichkeit partizipatif demokratische Defizite einfordert. Protestöffentlichkeiten sind somit integraler Teil von Gegenöffentlichkeiten, die sich überall und mit jedem Medium manifestieren können. Das Internet ist ein Schauplatz, der uns bis zu einem gewissen Maße die demokratischen Würfel neu werfen läßt. Zumindest können wir hier erneut beobachten, wie kritische Chancen der allgemeinen und effektiven Mitsprache und Teilnahme am sozialen Diskurs entstehen, sich nützen und auch leider wieder verspielen, bzw. in passiven Konsum von Großanbieterprodukten konvertieren lassen.
Eine Internetstation befindet sich in der Ausstellung und ermöglichen den Besuchern, meine dialogorientierten Webseiten aufzusuchen, die u. a. auch ein Diskussionsforum zum Thema Ortssprache - Lokal Language enthalten. Diese Diskussion findet seine Unterstützung in einer kleinen Ansammlung von Literatur, die unter dem Werktitel Ortssprachen - Eine tragbare Bibliothek (20 Bücher) auf einer Leseboje, ein “Kunst-Benutzerobjekt”, zugänglich ist. Während der Ausstellung halte ich mit diesen Büchern auch ein Leseseminar ab, das zur Diskussion zu diesen Themen anregen sollte. Seit Jahren veranstalte ich Leseseminare als integraler und produktiver Teil meiner diskurs- und pädagogikorientierten Kunstpraxis. Die daraus resultierenden Fotografien teilen den Titel Ortssprachen - Eine Leseseminar. Lesen und Schreiben, Sprechen und Diskutieren sind Kulturtechniken, denen ein befreienden und kritischen Potential innewohnt, das unabdingbar ist für eine vitale Zone resistent-toleranter Öffentlichkeit. Town meetings - eine alte Tradition von regelmäßigen Stadt-oder Dorfversammlungen in den USA - sollten nicht nur zu CNN Spektakeln verkommen, sondern können überall auch eine demokratisch partizipative Realität haben. Nicht zuletzt ist auch das maßgebende Kunst- und Kulturverständnis der letzten 200 Jahre eingebettet in eine Öffentlichkeitsdiskussion, die zum Teil erfolgreich erfolgreich politisch gerechtere Institutionen einklagte.
Die Bodenobjekte Add Bookmark, Save this Link, Open this Link, Home, Stop Loading, Reload, Copy this Link und Trash haben ihr sprachliches und graphisches Original in der Befehlslandschaft des Internets. Die Übersetzung dieser und anderer Schnittstellenelemente - etwa die Web-Adresse www. ?????????? kub,.at
New York, August 1998
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